Spannungsbögen aushalten

Im Nebel des Wartens

Letzthin habe ich eine Predigt zu diesem Thema gehalten. Entsprechend hat mich dieses Thema in den letzten Wochen und Monaten begleitet. Ein paar Gedanken daraus möchte ich auch hier teilen. Wenn du dir die Predigt anhören möchtest, findest du sie noch auf Spotify.

Bestimmt kennst auch du Zeiten, in denen du unter grosser Spannung gestanden bist. Leidvolle Zeiten. Zeiten, in denen dichter Nebel die Sicht auf das ganze Bild versperrt hat. Zeiten, in denen du gedacht hast: Wann hat dies endlich ein Ende? Wann greift Gott endlich ein? Oder vielleicht trägst du in deinem Umfeld schwere Schicksalsschläge mit. Bist herausgefordert, Menschen zu begegnen, die in einem schwer aushaltbaren Spannungsbogen stehen.

Ich denke, wir alle begegnen in unserem Leben immer wieder Situationen, in denen wir gefordert sind, Spannungsbögen auszuhalten – sei es im eigenen Leben oder im Anteil nehmen am Ergehen von Mitmenschen. Das können Krankheitszeiten sein. Der Verlust von lieben Menschen. Hoffnungen, die sich nicht erfüllen. Verschiedenste persönliche Krisen.

Spannungsbögen in der Bibel

In der Bibel finden wir viele Geschichten von so Spannungsbögen. Josef zum Beispiel erlebte einen sehr langen Spannungsbogen, den er aushalten musste, bis sich seine von Gott geschenkten Visionen erfüllten. Er musste viele Jahre sehr viel ertragen, bis das ganze Bild von Gottes Plan sichtbar wurde.

Oder Abraham und Sara. Sie litten an ihrer Kinderlosigkeit. Im hohen Alter, als ihr Haltbarkeitsdatum eigentlich schon abgelaufen war, schrieb Gott Geschichte mit ihnen. Und Hiob war mit grausamen Schicksalsschlägen konfrontiert. Er verstand Gott nicht mehr, haderte und klagte. Und Gott mutete ihm einfach zu, diese Zeit auszuhalten. Inklusive Gottes Schweigen zu ertragen.

Ich weiss nicht, wie es dir geht. Aber ich bin im Aushalten nicht besonders gut. Ich möchte gerne schon wissen, wie etwas rauskommt. Ich möchte einen Ausweg finden. Eine Lösung. Ich möchte Leid von lieben Mitmenschen aufheben oder zumindest lindern. Aussteigen aus dem Spannungsbogen.

Doch so ist das Leben oft nicht. Spannungsbögen gehören dazu. Und müssen oft auch ausgehalten werden. Es gibt keine Abkürzungen.

Abkürzungsfallen

Spannend, wie wir Menschen trotzdem immer wieder versuchen, Abkürzungen zu nehmen. Hier ein paar Fallen, in die wir schnell mal tappen:

Erklärung suchen

Für alles suchen wir eine Erklärung. Einen Grund, wieso etwas so ist. «Du hast gesündigt» oder «vielleicht ist es ganz gut, dass er gestorben ist, weil er damit bewahrt wird vor…» oder «Ich werde nicht schwanger, weil ich vielleicht eh nicht mit einem Kind umgehen könnte.». Doch wird das Leid wirklich erträglicher, wenn wir eine Erklärung haben? Ist es nicht eher eine Flucht vor erdrückenden Gefühlen?

Wer ist Schuld?

Die Menschheit sucht immer nach einem Schuldigen. Stürzt ein Flugzeug ab, kommt die Frage: Wer ist schuld? Ein Familienzerwürfnis: Wer ist schuld? Und bei Naturkatastrophen ist schnell mal auch Gott schuld. Doch Schuldzuweisungen bringen Verstorbene nicht zurück. Ändern nichts am Leid der Betroffenen. Sie sind höchstens der Versuch, einen Empfänger für die eigene Wut und Auflehnung zu finden.

Lösungsvorschläge

Wir sind schnell dabei, Auswege zu überlegen: Menschen mit Krankheiten können ein Lied davon singen. Jeder hat noch einen Tipp, was helfen könnte. Oder bei unerfülltem Kinderwunsch: «Macht eine Weltreise und denkt an etwas anderes.» Das mag alles gut gemeint sein, doch es wird der Person in dieser Situation nicht gerecht. Ich hole sie damit nicht in ihrem Leiden ab. Sie fühlt sich kein bisschen verstanden. Die meisten suchen nicht eine Lösung, sondern Menschen, die ihnen in ihrem Schmerz begegnen. Doch mit unseren Lösungsvorschlägen versuchen wir die Situation und die schwierigen Gefühle (besonders bei uns selber) unter Kontrolle zu bringen.

Schnell beheben

So versuchen wir, die leidvolle Situation möglichst schnell zu beheben, statt mit jemandem auszuhalten. Das kann auch über die fromme Schiene ablaufen. Schnell ein gutes Bibelwort zustecken, denn die Person muss doch jetzt nur den Fokus wechseln und genug auf Gott vertrauen. Oder: «Komm, ich bete für dich, dass das schnell weggeht…». Doch ist dahinter nicht einfach das Motiv versteckt, die schwierigen Gefühle möglichst schnell weg zu haben? Weil sie Hilflosigkeit und Überforderung auslösen?

Wie kann ein Spannungsbogen ausgehalten werden?

Spannungsbögen sind Realität. Menschen erleben Dinge im Leben, die sind schwer. Und das dürfen wir auch beim Namen nennen. Und aushalten. Mit den Betroffenen zusammen. Diese Spannungsbögen sind nicht einfach weg. Ausser Gott tut ein Wunder, was wir natürlich auch in Betracht ziehen dürfen. Wir dürfen immer mit dem direkten Eingreifen von Gott rechnen. Wunder sind absolut möglich! Wir dürfen darum bitten. Gott kann eingreifen und diesen Spannungsbogen abkürzen. Doch oft tut er es nicht. Und auch diese Variante müssen wir einbeziehen und dann auch aushalten.

Mit Gottes Eingreifen rechnen.

Damit rechnen, dass Gott am Werk ist, auch wenn ich es nicht sehe.

Gefühle zulassen

Das Zulassen von schwierigen Gefühlen (Wut, Trauer, Scham etc.) ermöglicht eine ehrliche Auseinandersetzung. Fördert den Zugang zu uns selber. Ermöglicht langfristig Akzeptanz und die Integration des Geschehenen. Das Zulassen von Gefühlen ist schlicht und einfach ehrlich. Und heilsam.

Klage

Klage darf sein. Auch gegenüber Gott. Sie bringt die Trauer und Enttäuschung zum Ausdruck über das, was wir nicht erhalten haben oder was uns genommen wurde. Ich teile meine Not mit Gott. So gebe ich ihm auch die Chance zu antworten, zu seiner Zeit. Auf seine Art. Er wird antworten.

Aushalten

Menschen in Spannungsbögen brauchen Mitmenschen, die mit ihnen aushalten. Auch die schwierigen Gefühle. Damit werden Menschen ernst genommen in dem, was sie erleben. Es entsteht eine Verbundenheit und die gibt Kraft. Das ist so ein wichtiger Punkt!
Sei einfach da für diese Menschen! Es braucht keine grossen Worte. Sei einfach offen für das, was sie erleben. Höre zu. Nimm Anteil.
Wenn du selber betroffen bist: Suche den Kontakt zu den Menschen, die das können. Das kann dir so viel Halt geben!

Fragen

Fragen sind immer gut. Und ganz sicher besser, als dich aus Hilflosigkeit zurückzuziehen. Was brauchst du? Was hilft dir, diese Situation auszuhalten? Was tut dir jetzt gut?
Das kannst du übrigens auch dich selber fragen.

Die Hoffnung nähren

Ich weiss nicht wann und wie sich der Bogen auflöst, aber er tut es. Entweder hier auf der Erde oder vielleicht auch erst im Himmel. Jeder Spannungsbogen findet sein Ende. Nach jedem Winter kommt der Frühling. Diese Hoffnung darf ich mir vor Augen malen. Daran festhalten. Mich darin ermutigen lassen und auch andere ermutigen. Diese Hoffnung hilft, kleine Schritte zu gehen.

Uns bergen in Gott

Wir haben einen Gott, dem unser Leiden nicht egal ist. Ob wir es spüren oder nicht: Gott ist mit uns in diesem Spannungsbogen. Er hält mit uns aus. Aushalten ist seine Stärke. Wir dürfen loslassen und uns in ihm bergen.

Die Zumutung annehmen

Gott mutet uns dieses Leid, diesen Bogen zu. Er sagt damit auch: «Ich traue dir zu, dass du daran nicht zerbrechen wirst.» Und Gott sagt: «Du bist stark, durch mich.» So dürfen wir Schritt für Schritt erleben, wie die Annahme des Leids zu einem neuen grossen Wunder in unserem Herzen wird.

Gemeinsam die Hoffnung nähren

In der Auseinandersetzung mit diesem Thema wurde mir besonders bewusst, wie sehr wir einander brauchen. Gerade in diesen Spannungsbögen. Und wie elementar es ist zu lernen, mit Menschen solche Zeiten auszuhalten. Und miteinander Gefühle von Trauer, Überforderung, Wut und Unverständnis zuzulassen. Aber auch gemeinsam die Hoffnung zu nähren.

In der Beratung arbeite ich sehr häufig mit Menschen, die gerade in einem Spannungsbogen stehen. Da geht es je nach Thema schon auch darum zu schauen, was kann aktiv gestaltet werden. Wo und wie ist Veränderung möglich. Aber sehr oft geht es zuerst ums Akzeptieren. Zulassen. Aushalten. Und genau daraus darf etwas Neues wachsen. Diese kleinen und grossen Wunder faszinieren mich. In den Spannungsbögen werden Geschichten geschrieben. Bestimmt hast auch du eine zu erzählen.

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